Florian Streit geht vom menschlichen Antlitz in seiner Realität aus, das er als Fotografie seinem Werk zu Grunde legt. Dieses Kindergesicht unterzieht er einem langwierigen Dekonstruktions–Prozess: Durch Digitalisierung, Übermalung und Spachteltechnik erfährt das Gesicht eine tief greifende Verwandlung und Verfremdung.
Ich als Betrachter muss den umgekehrten Weg beschreiten. Stehe ich zuerst nahe beim Bild, bin ich zunächst einmal konfrontiert mit einem wüsten Wirrwarr von Farbflecken, Pinselspuren, Spachtelkratzern, Farbfetzen und –schlirggen, bei denen ich nichts Figürliches erkennen kann. Erst aus ein paar Schritten Entfernung lässt sich dann unter dem Farbauftrag ein menschliches Antlitz erahnen.
Die Pinsel- und Spachtelspuren, die das zu Grunde liegende Kindergesicht überdecken, erinnern mich an Gazebinden, mit denen ein verletztes Antlitz im Spitalbett eingewickelt wurde, um dem Gesicht die Wiederherstellung und Genesung zu ermöglichen. – Sie erinnern mich an essenzgetränkte Bänder, mit denen die Ägypter ihre Könige einbalsamiert haben, um den Mumien den Übergang ins Totenreich zu ermöglichen. – Sie erinnern mich an Seidenfäden, mit der die Raupe sich in ihre Puppe eingesponnen hat, um die Umwandlung in einen Schmetterling zu vollziehen.
Trete ich noch einige Schritte zurück und kneife die Augen etwas zu, so vollzieht sich tatsächlich in diesem Antlitz eine erstaunliche Wandlung: Das Kindergesicht wird heil, der ägyptische König lebt wieder auf im ewigen Totenreich, die Raupe fliegt nach ihrem dunklen Puppenstadium als Schmetterling in die Welt hinaus. Die versehrte Welt kann genesen.
Dr, Peter Chmelik
Reinach BL
3. Juli 2008